Gedankensplitter

"Giuliana fällt mir sofort ins Auge, als ich den Kindergarten der Don Bosco Schwestern in Tale betrete. Mit ihren großen Augen und den blonden Haaren schaut mich das bildhübsche kleine Mädchen ängstlich und doch hoffnungsvoll an. Als ich allerdings von den Schwestern ihre traurige Geschichte erfahre, verwandeln sich meine eigenen Gefühle der Fassungslosigkeit und des Mitleids mit dem kleinen Mädchen, hin zu Empörung und Zorn. Ich bin wütend, weil es diese traurigen Einzelschicksale im Jahr 2015 noch immer gibt, mitten in Europa, mitten unter uns. Giuliana ist leider kein Einzelfall, Geschichten wie die ihre, gibt es zu Tausenden.

Giuliana ist vier, ihre Schwester Laura gerade mal zwei Jahre alt. Laura heißen viele Kinder in dieser Gegend, benannt nach dem Zentrum der Schwestern „Laura Vicuna“. Das soll Glück bringen, erklärt man mir, mitten in Tale, es ist ein wahrlich trostloser Ort. Ihre Eltern sind vor sechs Jahren von den Bergen Mirditas nach Tale gezogen, auf der Suche nach Arbeit, einer Chance auf eine Zukunft abseits der Tristesse des Heimatdorfes, einfach nur auf der Suche nach einem besseren Leben. Das ist die Hoffnung vieler Menschen in Albanien, wenn sie ihre Heimat verlassen und ins Ausland gehen, oder sich in der Nähe größerer Städte niederlassen. Leider bringt diese Veränderung nicht die erhoffte Verbesserung der Lebensumstände, so wie bei den Eltern von Giuliana.

Sie leben in einem barackenähnlichen Haus. Das Geld für die Miete einer Wohnung haben sie nicht. Nicht selten fehlt auch das Geld für das Essen. Giuliana kommt oft schon in der Früh ausgehungert in den Kindergarten. Die Schwestern geben ihr dann als erstes ein Frühstück, noch vor der alltäglichen Jause für alle Kinder. Giuliana wird auch von den Schwestern eingekleidet, seit sie bei Minustemperaturen nur leicht bekleidet und mit löchrigen Schuhen vor dem Kindergarten stand. Die Eltern haben keine Arbeit. Sie können weder lesen noch schreiben, damit ist die Chance, jemals eine Arbeit zu bekommen, in einer Gegend wo Arbeit eher eine Ausnahme bedeutet, kaum gegeben. Sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, dennoch fehlt es an allen Ecken und Enden.

Der Vater ist wie viele Männer in dieser Gegend. Er trinkt zu viel, schlägt seine Frau und auch seine zwei kleinen Mädchen. Schon des Öfteren ist Giuliana mit blauen Flecken am ganzen Körper in den Kindergarten gekommen. Man ist geneigt zu fragen, warum denn keiner etwas dagegen unternimmt. Wenn man allerdings die wahren Hintergründe einer Gesellschaft verstehen will, darf man sich ein vorschnelles Urteil nicht erlauben. Vor nicht allzu langer Zeit mussten auch die Frauen in Österreich um ihre Rechte kämpfen. Die albanischen Frauen stehen dabei teilweise erst am Anfang, deswegen gilt es, sie zu unterstützen. Mit Projekten, welche die Stärkung der Frauen in der Gesellschaft zum Ziel haben, mit Berufsausbildungen, mit Frauennotschlafstellen, mit Rechtsberatungen. Deswegen bin ich dankbar, dass die Don Bosco Schwestern das Zentrum für Frauen und Kinder ins Leben gerufen haben. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Situation der Frauen dieser Gegend.

Irgendwie erinnern mich manche Eindrücke an Afrika, oder Südamerika. Aber wir befinden uns in Europa, in einem Land, welches den offiziellen EU-Anwärterstatus erhalten hat. Nach vielen verschiedenen Eindrücken während unseres Besuches, weiß ich einmal mehr, warum die Arbeit der Caritas so wichtig ist. Es wird immer Menschen geben die unsere Hilfe benötigen, sei es im In- oder Ausland. Giuliana ist einer der Gründe, warum wir nicht müde werden, die Not mitten unter uns aufzuzeigen und die Menschen zu bitten, uns bei unserem täglichen Tun zu unterstützen. Wenn wir nur einem Menschen am Tag helfen können, ist es ein guter Tag, wenn wir vielen helfen ist es noch besser.

Beim Rückflug in mein warmes zu Hause kam mir die Frage kurz in den Sinn, ob sich meine eigenen Kinder schon jemals so über ein kleines Schokoladenstück gefreut haben, wie es das kleine Mädchen mit den großen Augen getan hat."

Mag. Alexandra Blattnig

Kommunikation Auslandshilfe